Die Funktion sigma1)

Mehr zufällig fand ich in der Zeitschrift Mathematical Intelligencer im Heft 13.1 (1991) auf Seite 42 folgende Aufgabenstellung, die mich zur Bearbeitung reizte:

Theorem: Sei  f  eine beliebig oft differenzierbare Funktion über einem offenen Intervall  X  der reellen Zahlengeraden und es gelte, daß zu jedem  x  in  X  eine nichtnegative ganze Zahl  n  existiert, so daß  Dn( x ) = 0  ist, dann ist die Funktion  f  ein Polynom (ganzrationale Funktion).

Da ich zunächst keinen Ansatz für einen Beweis fand, versuchte ich ein Gegenbeispiel zu konstruieren. Dies ist mir auch fast gelungen. Dieser Versuch führte mich auch zu einer Idee, obiges Theorem zu beweisen - der Beweis kann mit Standardmitteln der Analysis geführt werden.

Ergänzend bleibt festzustellen, daß die Aussage des obigen Satzes richtig bleibt, wenn  ein beliebiges nicht zu einem einzigen Punkt entartetes Intervall ist und die Bedingung für alle seine inneren Punkte gilt.

Die Konstruktion der Funktion, die zum Gegenbeispiel gedeihen sollte, wird nachstehend wiedergegeben:
Sei  die ganze reelle Zahlengerade und  ( x ) = 0  für  < 0 und > 1. Ferner sei für 1/3 < x < 2/3 ,  ( x ) = 1  und damit  Df ( x ) = 0 . In all diesen Ungleichungen kann aufgrund der vorausgesetzten Stetigkeit "kleiner" durch "kleiner oder gleich" und "größer" durch "größer oder gleich" ersetzt werden2). Durch die Festlegungen

( x ) = ( 1-) ,

für alle  x  und

Df ( x ) = 3/2 f ( 3) ,

für  < 1/3  kann gefolgert werden, daß - sofern die Funktion existiert - sie in den Intervallen [1/9, 2/9] und [7/9, 8/9] mit einem linearen, in den Intervallen [1/27, 2/27], [7/27, 8/27], [19/27, 20/27] und [25/27, 26/27] mit einem quadratischen Polynom übereinstimmt usw.

Daraus ist abzuleiten, daß diese Funktion fast in jedem Punkte der reellen Zahlengeraden - nämlich bis auf eine Teilmenge der Cantor-Menge - eine verschwindende Ableitung besitzt. (Diese Menge von Punkten, an der die Voraussetzung des Satzes nicht erfüllt ist, ist genau die Cantormenge gemäß ihrer Definition in [Alexandroff, P. S.: Einführung in die Mengenlehre und die Theorie der reellen Funktionen. 5. Aufl., VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1971] vermindert um die abzählbar vielen Endpunkte der Intervalle auf denen die Funktion mit einem Polynom übereinstimmt (siehe oben).

Zugegeben, den Beweis der Existenz dieser Funktion habe ich nie geführt, sondern mich sofort einer verwandten Funktion zugewendet. Diese erhält man, wenn man das Intervall, auf dem die Funktion konstant ist (oben [1/3, 2/3]) zu einem Punkte schrumpfen läßt - aus Symmetriegründen ist dies der Punkt 1/2. (Diese Funktion habe ich mit dem griechischen Buchstaben sigma bezeichnet.) Zwar besitzt diese nicht mehr die im ursprünglichen Zusammenhang gewünschte Eigenschaft fast überall polynomial3) zu sein, sondern sie ist es nur noch auf der dichten aber abzählbaren Menge der dyadischen Punkte4). Ihr Graph vermittelt einen Eindruck von ihrem ästhetischen Reiz.

Im ersten Aufsatz über die Funktion sigma wird deren Existenz nachgewiesen [Volk, W.: Properties of subspaces generated by an infinitely often differentiable function and its translates, ZAMM . Z. angew. Math. Mech. 76 (1996) Suppl. 1, S. 575 - 576] (vgl. auch Publikationen). Ferner wird in diesem Artikel nachgewiesen, daß sich in Funktionenräumen, die von translierten Exemplaren von sigma aufgespannt werden, alle Polynome bis zu einem bestimmten Grad enthalten sind.

Von diesem Erfolg angespornt, sind derzeit Ausarbeitungen zu folgenden Themen geplant:


1) Es wurde bewußt darauf verzichtet, in den vorliegenden HTML-Dokumenten auf Symbolfonts zurückzugreifen, die nur unter Windows aber eben nicht auf allen Plattformen verfügbar sind - deshalb werden hier die griechischen Buchstaben in kursiver Schrift ausgeschrieben. Der Nachteil einer schlechteren Lesbarkeit wird bewußt in Kauf genommen. (Zurück zum Bezug)

2) Diese Zeichen stehen im ASCII-Zeichensatz nicht zur Verfügung, weshalb sie hier auch nicht verwendet werden. Die Argumentation von Fußnote 1) gilt auch hier. (Zurück zum Bezug)

3) Definition: Eine reellwertige, beliebig oft differenzierbare Funktion  f  heißt in einem Punkt  x  ihres Definitionsbereichs polynomial, wenn eine natürliche Zahl  n0  existiert, so daß für jedes  > n0  die Identität  Dn( x ) = 0  gilt. (Zurück zum Bezug)

4) Definition Die Menge {j/2k | j, aus Z} bezeichnet man als Menge der dyadischen Punkte. Hierbei bezeichne Z die Menge aller ganzer Zahlen.
(vgl. auch Pollen, D.: Daubechies' scaling function on [0,3], in: A Tutorial in Theory and Applications, herausgegeben von: C. K. Chui, Academic Press, San Diego 1992, 3 - 13) (Zurück zum Bezug)


Zurück zur Wurzel Erstellt von W. Volk im November 1998
Zuletzt formal korrigiert am 21. September 2012